Predigt zum Buss- und Bettag 2023

von Annette Pohlke

Nie wieder ist jetzt.

Mit diesem Satz drücken gerade Menschen ihr Entsetzen darüber aus, dass hier und heute, in Deutschland, in Berlin, in meiner Heimatstadt, Jüdinnen und Juden Angst haben; Angst, auf der Straße als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden, Angst, dass ihre Kinder in der Schule gemobbt werden, Angst, dass ihre Wohnhäuser und Gemeindehäuser Ziel von Anschlägen werden könnten. 85 Jahre nach den von den Nationalsozialisten inszenierten Ausschreitungen gegen jüdische Menschen, jüdische Geschäfte und Einrichtungen fürchten Jüdinnen und Juden wieder um ihre Sicherheit. Ich schäme mich dafür und frage mich: Wie konnte das passieren?

Nie wieder ist jetzt.

Vielleicht könnt ihr das schon nicht mehr hören und vielleicht fragt ihr euch, was das jetzt mit dem Buss- und Bettag zu tun hat.

Nie wieder – besser kann man nicht ausdrücken, was mit dem altmodischen Wort „Buße“ in der Bibel gemeint ist. In der Übersetzung von Martin Luther steht „Buße“ und der heutige Feiertag führt das Wort im Namen. In neueren Übersetzungen steht satt des alten „wenn ihr nicht Buße tut“  das etwas moderner klingende „wenn ihr nicht umkehrt“. Dabei ist das tatsächlich genau das, was im Originaltext der Bibel steht, denn das griechische Wort metanoia und das hebräische Wort teschuwa heißt genau das: Umkehr bzw. Umdenken. Man geht in die falsche Richtung und muss jetzt ganz dringend umkehren. Nicht so weiter machen wie bisher. Radikal umdenken. Aufhören. Möglichst für immer.

Nie wieder!

Das haben sich Menschen geschworen auf den Trümmern des zerbombten Berlins und an den Gleisen nach Auschwitz, über die Zehntausende in den Tod transportiert wurden. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Rassismus und Antisemitismus.

Und jetzt fragen wir uns, wo wir heute stehen, warum dieses „Nie wieder“ nicht funktioniert zu haben scheint.

Leider ist das ganz menschlich. Im Kleinen funktioniert es ja oft schon nicht. Wie oft habt ihr euch zum Beispiel vorgenommen ab jetzt immer die Hausaufgaben zu machen? 

Was bringt es dann, dieses „nie wieder“? Wozu, wenn wir dann vielleicht doch scheitern?

Springen wir jetzt mal zu Jesus. 

Jesus wird auf aktuelle Ereignisse angesprochen, die damals Tagesgespräch waren. Die Aufregung, der Schock der Mensch war ganz sicher nicht anders als heute. Damals fragten die Menschen auch: Wie konnte das passieren? Aus der Antwort, die Jesus gibt, erfahren wir, welche Erklärung sie sich zuerst gelegt haben: Die Leute müssen wohl selbst schuld gewesen sein. Das ist eine so menschliche Reaktion. Ich habe für heute ein paar Dinge im Internet recherchiert und da quellen die Nachrichtenseiten und Kommentarspalten über mit der Frage nach der Schuld. Wer hat Schuld? Wer hat angefangen? Was war zuerst da: Israel oder Palästina? Wenn plötzlich etwas Schlimmes passiert, macht uns das Angst. Völlig zu Recht. Die Suche nach dem Schuldigen dämpft unsere Angst. Wenn wir irgendwie eine Schuld feststellen können und einen Schuldigen benennen, dann ist das Schlimme, das passiert ist, gleich weniger beängstigend. Man kann etwas tun. Am besten seinen Ärger und seine Frustration auf den Schuldigen lenken und dann kann man sich etwas besser fühlen. 

Es ist genau dieses Verhalten, vor dem Jesus warnt. „Meint ihr etwa, sie hatten größere Schuld auf sich geladen als alle anderen Einwohner Jerusalems?“, fragt er und antwortet gleich selber: „Bestimmt nicht!“ Warum sagt er dann gleich danach, dass wir Buße tun sollen, damit wir nicht auch so sterben? Ich denke, er will die Menschen und uns aus ihrem Reflex der Schuldzuschiebung herausholen. Wem Schlimmes zustößt verdient Mitgefühl, Empathie, Solidarität, nicht Schuldzuweisungen. „Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle genauso umkommen.“ ist keine Drohung, sondern eine Feststellung: Wenn ihr ihr anderen die Schuld zuschiebt, wird es euch irgendwann genauso ergehen. Vielleicht ist da tatsächlich der Hauch einer Drohung und Jesus will uns daran erinnern, dass wir alle nie wissen können, wie und wann uns das Schicksal trifft, der Ernstfall eintritt, es plötzlich darauf ankommt. Wir alle sind verletzlich und unsere Versuche, uns durch Mechanismen wie Schuldzuweisungen dagegen abzuschirmen sind sinnlos und schädlich.

Und dann erzählt Jesus ein Gleichnis, um zu veranschaulichen, was er meint. Dabei geht es um einen Landbesitzer, einen Feigenbaum und einen Gärtner. Der Landbesitzer will den Baum umhauen, weil er keine Früchte trägt. Aber der Gärtner will dem Baum eine Chance geben. Er will noch mal was für ihn tun und noch etwas warten. Vielleicht trägt er ja doch noch. Da ist auch der Hauch einer Drohung. Weg mit dem Baum, wenn er nichts taugt! Die Dringlichkeit ist gewollt. Ändere jetzt etwas nicht irgendwann und vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Jetzt ist die Zeit etwas zu tun, weil wir alle nicht wissen, wie viel Zeit uns bleibt. Aber da ist auch die Geduld des Gärtners, der weiß, dass er nicht mit einer Maschine arbeitet, sondern mit einem Lebewesen. Da gehen die Dinge nicht auf Knopfdruck. Er kann wässern und düngen und noch mal umgraben. Ob der Baum Früchte tragen wird, kann er nicht wissen. Aber er kann hoffen und der Sache noch etwas Zeit geben.

Die Geschichte vom Feigenbaum ist eine Hoffnungsgeschichte, die uns Mut macht, nicht aufzugeben, auch wenn unser „Nie wieder“, wenn unser guter Vorsatz doch noch nicht die Früchte getragen haben, die wir uns erhofft haben. Das bedeutet nicht, dass wir die Hoffnung auf die Früchte aufgeben haben. Um Dinge zu verändern – uns selber und die Welt – brauchen wir beides: Dringlichkeit und Geduld. Und Mitgefühl.

Wir müssen deutlich an der Seite jüdischer Menschen stehen. Das sind wir unserem „Nie wieder“ schuldig. Nie wieder soll Menschen Würde und Lebensrecht abgesprochen werden, nie wieder sollen ganze Menschengruppen zu Sündenböcken und Objekten des Hasses gemacht werden. Das gilt für alle Menschen. Man kann nicht für Mitmenschlichkeit und Menschenwürde eintreten, indem man Hass auf Menschen zulässt. Deshalb müssen wir Mitgefühl empfinden für die Familie, die aus Gaza geflohen ist und jetzt hungert oder für den jungen russischen Wehrpflichtigen und seine Mutter, die zu Hause um sein Leben bangt. Das ist viel schwieriger als einfach alles in schwarz-weiß zu sehen. Es ist anstrengend, es kann uns emotional überfordern. Aber es ist das einzig richtige.

Schnelles Verurteilen, Schwarz-Weiß-Malerei, Entsolidarisierung sind menschliche Schwächen, denen wir nicht immer widerstehen können, aber wir können uns Vorbilder nehmen. Ich denke gerade an Ruth Haran. Sie ist 87 Jahre alt. Als kleines Mädchen musste sie ihr Zuhause in Bukarest verlassen, um nicht der nationalsozialistischen Verfolgung zum Opfer zu fallen, weil sie Jüdin war. In Israel fand ihre Familie eine neue Heimat. Am 7. Oktober drangen Terroristen der Hamas in Beeri ein, wo Ruth Haran mit ihrer Familie lebte. Ruth überlebte den Angriff, ihr Sohn und weitere Familienmitglieder wurden getötet. Ihre Tochter, ihre Enkel und Urenkel sind Geiseln der Hamas, sie weiß nicht, ob sie noch leben. Die kanadische Zeitung Torontostar hat Jüdinnen und Juden, die die nationalsozialistische Verfolgung überlebt haben, gefragt, was der Überfall vom 7. Oktober mit ihnen gemacht hat. Für Menschen wie Ruth Haran kommt der alte Schrecken neu zurück. Wieder haben Menschen ihr Haus angezündet und Teile ihrer Familie getötet. Aber Ruth Haran sagt: „Die Menschen in Gaza sind gut. Sie waren unsere Nachbarn. Aber sie haben eine schlechte Führung. Wie kann ein Mensch Kinder und Alte umbringen?“ 

Wenn eine Frau, die man als Kind und als alte Frau umbringen wollte, nur weil sie Jüdin war, die zwei Mal einen Teil ihrer Familie an antisemitischen Hass verloren hat, so über die Menschen in Gaza reden kann, sollten wir es auch können.

Nie wieder ist jetzt.

Jetzt ist die Zeit, um an der Seite Israels, an der Seite von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu stehen. Wir können das tun, indem wir unser Mitgefühl und unsere Solidarität ausdrücken und menschenfeindlichen Äußerungen gegen Jüdinnen und Juden entgegentreten. Nichts davon hält uns davon ab, auch mit den Menschen in Gaza mitzufühlen, denn Menschlichkeit ist nicht teilbar.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

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